Auf meiner langen Reise durch Indien besuche ich immer wieder Bildungseinrichtungen verschiedenster Art.
Ende November hatte ich, vermittelt durch Jaya Singh, dem „Chef“ des CMM (Chaithanya Mahila Mandali) in Hyderabad, die Möglichkeit, einige Schulen auf dem Land zu besuchen, mit Kollegen und Schülern zu sprechen. (Der Kontakt zu CMM besteht schon länger, meine Tochter, „natürlich“ Abiturientin des LSH, arbeitete dort nach ihrem Abitur ein Jahr als Freiwillige) [CMM ist eine NGO, die vor allem in Hyderabad und Umland sozial arbeitet.
Manche Illusionen über das indische Bildungssystem, den darin vermuteten Aufstieg und die gute Allgemeinbildung, die den wirtschaftlichen Aufschwung begleitet, wurde ich auf der Fahrt schon los. Dies alles gibt es, wurde mir erklärt, aber für einen kleinen Teil der indischen Bevölkerung. Ich sollte heute die wirklichen Bedingungen - Realität für die übergroße Zahl der indischen Kinder - kennenlernen. Ich kann das Gesehene und Gehörte natürlich in keiner Weise beurteilen, das Folgende ist das was, ich hörte und was ich sah.
Wir besuchten insgesamt drei verschiedene Schulen. Allen gemeinsam war, dass das Einzugsgebiet rein landwirtschaftlich geprägt war, es gab keine Schulbusse, die Kinder waren im Durchschnitt 5 km einfach zu Fuß unterwegs, um von der Wohnung zur Schule zu gelangen.
Die Kinder kommen aus armen Familien, das in der Schule kostenlos verteilte Mittagessen ist für einen Großteil der Kinder der Grund, überhaupt die Schulpflicht zu erfüllen. Schulschwänzer zum Schulbesuch zu zwingen, findet in keiner Weise statt. Wer nicht zur Schule kommt, schwänzt in der Regel aber nicht, weil er keine Lust hat, sondern weil seine Arbeitskraft zuhause benötigt wird.
Die warme Mahlzeit auf Kosten des Staates ist nicht unbedingt eine reichhaltige oder abwechslungsreiche. Reis gibt es jeden Tag, dazu meist diverse, eben gerade vorhandenen Gemüsesorten in gut gewürzten Soßen. Wasser gibt es in der Schule nicht, das müssen die Kinder für den gesamten Tag selbst mitbringen.
Gegessen wird am Boden. Auch ein Großteil des Unterrichts finden am Boden statt, da nicht für alle Klassenzimmer Möbel vorhanden sind. Irgendwelche elektrische Spielereien sind von Haus aus unmöglich, nur ein Klassenzimmer verfügt über Steckdosen. Müßig zu sagen, dass keines der Kinder ein Handy hat.
Die Fähigkeiten der Schüler sind, wie die Lehrer berichten, äußerst limitiert. Sie lernen mit Mühe auswendig, was im Buch steht, verstehen es aber, so die Kollegen, nicht immer. Rechnen, Lesen, Schreiben, diese Fertigkeiten werden viel geübt. Dazu zum Beispiel im Fach Englisch die Schreibweise der Begriffe, indem die Kinder sehr oft die Worte gemeinsam laut buchstabieren. Diese Einübphasen finden oft auch ohne den Lehrer statt. Was für die Lehrerkräfte auch notwendig ist, um ihre Arbeitskraft einzuteilen. Eine der Schulen hat z.B. 520 Schüler, für welche 19 Lehrkräfte verantwortlich sind. Von morgens 9:00 bis meist 16:00 oder 16:45. Vergleiche zum LSH sind erlaubt und erwünscht.
Berufswünsche oder gar Wünsche, irgendwann ins Ausland zu gehen, sind für diese Kinder nicht denkbar. Das "Europa", aus dem ich komme, war für die allermeisten der Schülerinnen und Schüler ein völlig leerer Begriff. Die meisten werden am Ende der Schulzeit in der Landwirtschaft der Eltern weiterarbeiten. Die Mädchen, so wurde mir auf mehrfache Nachfrage, weil ich das erst gar nicht glauben konnte, bestätigt, werden mit etwa 14 verheiratet, sind nicht selten mit 21 Witwe.
Der "träumbare" Traum ist einzig der Umzug in die Großstadt. Dies bedeutet in dieser Region die Umsiedlung in die Slums am Rande Hyderabads, schlecht bezahlte Tätigkeit als Helfer auf den unzähligen Baustellen, meist ohne Versicherung oder sonstige soziale Absicherung.
Die Slums von Hyderabad
Gestern die Schulen waren schon teilweise schwer zu ertragen, heute ging ich in die Slums von Hyderabad. Es ist schwierig, die Eindrücke in Worte zu fassen. Schwer. Unerträglich. Schön. Faszinierend. Schmerzhaft. Beschämend. All das, und doch mehr als es so jetzt hinzuschreiben.
Ich bin sehr froh, dass ich es gesehen habe. Ich habe manches nicht fotografiert, auch wenn die Menschen mich dazu eingeladen haben, es erschien mir oft einfach unpassend.
Zuerst hatte ich die Möglichkeit an einer Essensverteilung mitzuwirken. Die Organisation "Rise against Hunger" verteilt in den Slums in Hyderabad, zusammen mit CMM, mit Nahrungsergänzungsmitteln angereicherten Reis. Damit könne Mangelernährung vorgebeugt werden. 40 alleinerziehenden Frauen bekamen ein Paket mit Reis für die nächsten drei Monate. Es war für mich ein sehr schönes Gefühl, einmal "das andere Ende" zu sehen, also nicht in Europa irgendwelche Projekte zu unterstützen, sondern hier zu sein, zu erleben, wie die Hilfe ankommt.
Dann "spazierten" wir durch das Gelände. Insgesamt wohnen, wenn ich das richtig verstanden habe, 400.000 Menschen in diesem Gebiet, insgesamt 2.000.000 in Slums in Hyderabad insgesamt. Mein Eindruck war, dass viele versuchten, in den "Wohnungen", den Plätzen, wie auch immer, Menschenwürde zu behalten, was angesichts dieser Umstände sicher verdammt schwer sein wird. Ich kann es mir - glaub ich - nicht mal vorstellen.
Anschließend ging es zu einem weiteren Projekt im Gelände. CMM hat vor einem Jahr eine Initiative gestartet, die alleinstehenden Frauen eine eigenständige Existenz ermöglichen soll. Sie werden in vier Monaten an Nähmaschinen in der Herstellung von Kleidung ausgebildet. Nach erfolgreichem Abschluss (das heißt oft einfach Durchhalten der vier Monate mit täglicher pünktlicher Anwesenheit) dürfen sie die Nähmaschine behalten und damit eine Existenz aufbauen.
Der Rest der Zeit gehörte auf meinen Wunsch hin wieder den Schulen. Es war für mich sehr beeindruckend, wieviel Wert sowohl verschiedene Initiativen, die hier im Slum tätig sind, als auch die Kinder selbst ihrer Ausbildung beimessen. Sicher nicht auf hohem Niveau, darum geht es aber gar nicht. Gute Lese- und Schreibkenntnisse ermöglichen bereits eine Verbesserung der Lebenssituation. Die Kinder besuchen staatliche Schulen außerhalb des Slums (also natürlich nicht alle Kinder im Gelände). Um den Stoff besser zu begreifen gibt es, finanziert von diversen Initiativen (und es benötigt nicht viel Geld, um DIESE Hilfe zu bieten) abends von 18:00 bis 20:00 an vielen Plätzen des Geländes eine Art "Nachführunterricht". Meist geht es um Buchstabieren, Lesen, einfache Dinge. Und für mich war es immer wieder an diesem Abend extrem emotional, die Freude in den Augen der Kinder, die Motivation zu lernen und eine Chance zu bekommen.
Ein wichtiger Absatz zum Ende
Ja, ich weiß, es nervt gerade sehr. In diesen Wochen kommt jeden Tag mit der Post eine Einladung, mit der Bitte, dringend zu spenden.
Und ich kann kein Wort finden, das begründen würde, warum es hier in Hyderabad etwa nötiger sei als die Hilfe für die Tafel in Marquartstein oder für die Bergwacht Grassau.
Wir könnten immer ganz viel machen. Wir können aber auch ganz konkret als Schule einer Schule helfen.
Ich skizziere jetzt mal eine Möglichkeit: Eine der drei Dorfschulen möchte für die Kinder Laptops anschaffen. Warum? So wie ich beschrieben habe, sollen die doch Lesen und Schreiben lernen, nicht mit Computern rumspielen. Nein, heute ist es so, dass sie selbst an der Supermarktkasse Computer bedienen müssen. Warum teure Laptops? Weil bei dem ständigen Ausfall des Stroms und des immer wieder auftretenden Hochwassers ein Laptop mit Akku die einzig sinnvolle Möglichkeit ist. Und er kann am Abend auch leichter sicher weggeschlossen werden. Auch Indien ist kein Paradies. Sie benötigen zehn Laptops. Dazu das Jahresgehalt für einen Lehrer. Um ehrlich zu sein, ist dies der geringste Posten, was eigentlich schon wieder weh tut. Die Mitarbeiter der NGO vor Ort gehen davon aus, dass die Kollegen, die bereits dort sind, nach einem Jahr diese Aufgabe selbst übernehmen können. Auf diese Art muss die zusätzliche Lehrkraft nur ein Jahr finanziert werden.
Ich stelle mir weiter vor, dass dies ein Projekt sein kann, dass nicht in der Weihnachtszeit stattfindet, es kann, so sagt man doch heute, nachhaltig sein. Unsere SMV, die wunderbare Hilfe immer geleistet hat, sei es vor 20 Jahren im Rumänienprojekt bis zum letzten Einsatz für das Patenkind der Schule, kann hier tätig werden. Es ist genau umrissen, es kann zeitlich in einem sinnvollen Rahmen zu einem Ende gebracht werden.
Wie kann das konkret aussehen: Damit möchte ich, bitte, hier jetzt nicht langweilen. Es gibt Wege, ich habe mich erkundigt, aber das sprengt jetzt den Rahmen. Bei Bedarf stelle ich dies gern der SMV oder anderen Gremien vor. Im Moment geht es nur um die Entscheidung, OB. Es würde über die NGO CMM laufen, die hat jahrzehntelange Erfahrung, es würde, ja auch das, mit Steuererstattung für Spenden laufen.
Wer weitere Fragen hat: werner_wiedemann@t-online.de.
Erstmal wünsche ich allen, die es geschafft haben, bis hierher zu lesen, wunderschöne Weihnachten.
Liebe Grüße aus Indien, hier gibt es nicht nur Armut, hier gibt es auch wundervolle Kultur, herrliche Strände und gutes Essen. Darüber gibt’s natürlich auch mehr zu lesen, das dann auf: wernerunterwegs.de..